Der Künstler ist nie allein; sein Tagwerk hört nie auf, und weil er das lebhaft fühlt, kommt er sich im allgemeinen, was er auch tun mag, berechtigt, ja sogar, möchte man sagen, geadelt vor, geadelt durch unaufhörliche innere Munterkeiten, und er tritt ruhig, vielleicht manchmal sogar ein wenig schlapp auf, im Gefühl, dass <es> nie aufhört, als sage er sich: «Die Guten! Sie sollen sich nur drehen und wenden. Was wissen sie von dem Sturm, von der Glut und Wut des stetigen Aufgewecktseins?»
Robert Walser
Die Zeit
Gedichte zu schreiben ist eine Beschäftigung, von der ich nicht überleben könnte, aber lebe. Ich schreibe Gedichte und die Zeit schreibt mit. Ich spiele freie improvisierte Musik und sie spielt mit. Brauche ich sie im Lehrberuf, dann braucht sie mich. Drängst du die Zeit, so drängt sie dich.
Während des Schreibens habe ich sie also dazu gebracht sich auszudehnen – im Stillen, im Raum, am Holztisch, auf dem Arbeitsstuhl. Also sitze ich nun wieder im Atelier an meinen Texten und vor den Buch- und Heftausgaben für Literatur, Lyrik und Sprechtechnik.
An diesem Ort zu dieser Zeit entstehen die Gedichte auf dem erst leeren Blatt; errungen, erkämpft oder federleicht notiert – auf dem Papier fixiert. Dann erst setzt die Bearbeitung ein.
Die Entstehung
Viel Zeit braucht dieser Vorgang schon, denn vielleicht werden ja die nächsten zehn Varianten erst Jahre später entstehen – oder aber schon zehn Minuten nach dem Beginn des Schreibens; eben noch in Tinte auf Papier, direkt digital in OpenOffice oder im Internet auf dem Blog. So ist es nur konsequent, dass die Lyrik von ihrer Erstehung selbst handelt; wie in Gedichte Textgedichte:
rege
hin und her
im netz der eigenen und
fremden Gedanken
im teichohr
liebe ich dich
also
schreibst texte in gedichte,
gedichte und texte, sinnst
nach und webst,
verknüpfst buchstaben,
löst worte auf,
färbst ein, kochst, liest
den satz
In der Bearbeitung nun werden aus den Gedichten die sogenannten Textgedichte. So genannt möchte ich sie wissen: Einzelne Wörter verquicken sich mit Varianten, entwickeln sich, dehnen sich zu einem Ultrakurztext in poetischer Form. Ich schreibe keine Erzählungen und keine Romane; ich bin kein Schriftsteller – ich bin Lyriker und somit Kurzstreckensprinter.
Im Internet ist dieser kreative Prozess des Schreibens auf dem Blog am ehesten nachvollziehbar. Hier entstehen diese Textgedichte als Kommentare zu den ursprünglichen Gedichten; aus Gedichten werden Textgedichte.
Das erste Gedicht
eben hörte ich noch ein Geraune
aus stimmen ertönten
lettern im Strom
die Gedanken geben
wörterlang das neue
Das zweite Gedicht
konnte ich denn in den dunklen augen der erinnerten
die stimme erhören, die klang, als ob sie
mir aufgeschrieben würde im reden
zurückgeben die bilder
in der neuen schrift, die ich mochte
Das Textgedicht
vage mochte ich mich erinnern an die überbleibsel der stimmen
im ausdruck der erinnerten
klangen sie im gedächtnis widerhallten im raum der erinnerung und
gaben sie sich frei
aufgeschreiben notiert während des redens in lettern in bildern
was aufgrund der schrift
die buchstaben in wörtern waren von neuem
gemocht geliebt gebraucht
[…]
Das dritte Textgedicht
Licht-Sonar
ausschliessend in silhouette fasste ich den sog nach den
überbleibseln der noch klingenden stimmlaute, die präsent
sind im erinnerungsgefäss; das anklingen gelingt im
gedächtnis erfasstem hin und her ungehalten im takt
ungehindert im freien; ich erahnend ihren ausbruch im
innehalten kommen sie hervor, geworfen auf die leinwand,
transparente textfolie, magisch aus dem wasser aufgetaucht
und durchleuchtet.
Die Musik
Ihren Ausdruck finden die Gedichte vor allem an Konzerten, in denen der Text zusammengestellt, verarbeitet, vorgetragen und erlebt wird. Ohne Publikum würde denn ein anderes Projekt realisiert; wir üben wie Jazzer, die erst auf der Bühne alles geben, befassen uns etwa mit der Malperspektive, überlegen die Projektmöglichkeiten, tauschen Ideen aus. Es gilt, sich immer möglichst à jour zu halten, was die eigenen Spielmöglichkeiten betrifft; sonst verlören sich die Ausdrucksmittel später während der Improvisation.
Was wäre aber all der Text und die Musik ohne Leser- und Zuhörerschaft? Ohne sie bestünde alles nur für sich alleine. Sie sind es, die zuhören. Sie lesen die Gedichte.
So wie alles Leben einfliesst beim stillen Schreiben – wie im Band Das Cello spielend verlieren – so entsteht Leben im Zusammenspiel während des Konzerts. Da passiert der Übergang vom stillen Schreiben und Üben zum öffentlichen Entstehen von Text in, mit und an der Musik. Ein Konzerthappening; eigentlich ein recht ursprünglicher Entstehungsvorgang.
Keine Schranken
Meist kommen wir in experimentellen Kunsträumen zusammen. Diese Räume sind die besten, weil sie uns nicht nur den Raum geben, sondern uns auch gestalterische Freiräume lassen.
Am letzten Treffen waren Eric Ruffing, Perkussion, der Zeichner Markus Clauwaert und ich als Sprecher an Keyboard, electronics und Flügel als Improvisatoren dabei. Die improvisierte Musik kennt also keine Schranken der Disziplinen. Sie gründet sogar auf dieser Verschiedenheit der am gemeinsamen Erleben und Entstehen Beteiligten – das Publikum mit eingeschlossen.
Dabei stellt sich immer wieder die Herausforderung des gegenseitigen Einwirkens. Die im ganzen Konzert gegenwärtige Herausforderung ist also, in diesem Fall die Gedichte beim Lesen, am Keyboard mit dem Mikrofon, in der Begleitung zur Perkussion, visualisiert auf der Leinwand wirken zu lassen. Dabei sind die einzelnen Improvisateure eigenständig eingebettet im Ganzen. Es entstehen wunderbar einzigartige Erlebnisse im Einzel- sowie im Zusammenspiel. All dies kann nur im Moment entstehen; die spontanen sind die intensivsten. Die Menschen reagieren auf diese Anregungen erstaunt, gefordert, entspannt und schwärmerisch, um nur einige Reaktionen zu nennen.
schreiben als tag
werk, sinn, fall
experiment in der zeit
ex
ist das
alles?
das geschreibe jeden tag
als werk, wozu?, falle auf den textteppich
experimentiere, fresse zeit, aufgabe, aufgebe nie
aus!
das ist alles?
es ist alles!
mit tönen, licht und farbe jeden tag auch wenn nicht mit den augen am
horizont, sondern an der quelle. das werk beherzigt sein tun im
textgewebe, geben für minuten stunden im experiment. alles erklärt,
beschrieben, aus der welt getan. in die welt hinein während die ohren
hören auf dem grund, augen aufmerken, die stimme den mund bewegt
zischelnd am blatt noch ganz leise, dann immer lauter.
[…]
Veröffentlicht in der BFS-Zeitschrift Basel unter der Rubrik «carte blanche».
Performance in der imprimerie, Markus Clauwaert (Zeichnung), Eric Ruffing (perc), Bernhard Knab (keyb, voc, p, electr)